* 47 *

Marcia legte trotz ihrer Galoschen ein flottes Tempo vor, und die anderen folgten ihr. Tante Zelda musste immer wieder in Laufschritt fallen, um mitzuhalten. Sie erschrak, als sie die Schäden sah, die das Hochwasser angerichtet hatte. Überall Schlamm, Seetang und Dreck. Letzte Nacht, im Mondschein, hatte alles halb so schlimm ausgesehen. Außerdem war sie erleichtert gewesen, dass alle noch lebten. Da hatte ihr ein bisschen Schlamm und Unordnung nichts ausgemacht. Doch jetzt, im unerbittlichen Licht des Morgens, bot sich ihr ein Bild der Verwüstung. Plötzlich stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus.
»Das Hühnerboot ist fort! Meine Hühner, meine armen kleinen Hühner!«
»Es gibt Wichtigeres im Leben als Hühner«, sagte Marcia und marschierte ungerührt weiter.
»Die Kaninchen!«, jammerte Tante Zelda, als sie sah, dass die Baue weggeschwemmt worden waren. »Meine armen Kaninchen! Alle fortgespült!«
»Ach, seien Sie doch endlich still, Zelda!«, sagte Marcia gereizt.
Wenn es nach mir geht, dachte Tante Zelda, und das nicht zum ersten Mal, kann Marcia gar nicht früh genug in den Zaubererturm zurückkehren.
Wie ein lila Rattenfänger von Hameln stapfte Marcia weiter durch den Schlamm und führte Jenna, Nicko, Junge 412 und eine aufgeregte Tante Zelda zu einer Stelle neben dem Mott gleich unterhalb des Entenhauses.
Kurz vor dem Ziel blieb Marcia stehen, drehte sich um und sagte: »Ich muss euch warnen. Es ist kein schöner Anblick. Vielleicht sollte sich das nur Tante Zelda ansehen. Ich möchte nicht, dass ihr Albträume bekommt.«
»Die haben wie eh schon«, erklärte Jenna. »Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen als meine Albträume von letzter Nacht.«
Junge 412 und Nicko nickten beifällig. Sie hatten letzte Nacht beide sehr schlecht geschlafen.
»Na gut«, sagte Marcia. Sie stieg vorsichtig über den Schlamm hinter dem Entenhaus und blieb neben dem Mott stehen. »Das habe ich heute Morgen entdeckt.«
»Iiiiiih!« Jenna schlug die Hände vors Gesicht.
»Oh, oh, oh«, entfuhr es Tante Zelda.
Junge 412 und Nicko blieben stumm. Beiden wurden schlecht. Nicko verschwand in Richtung Kanal. Er musste sich übergeben.
Im schmutzigen Gras neben dem Mott lag etwas, das auf den ersten Blick wie ein leerer grüner Sack aussah. Auf den zweiten Blick sah es aus wie eine Vogelscheuche, die nicht ausgestopft war. Doch auf den dritten Blick – Jenna spähte nur zwischen ihren Fingern hindurch – erkannten alle, was da vor ihnen lag.
Der leere Körper des Lehrlings.
Er sah aus wie ein Luftballon, aus dem man die Luft abgelassen hat, jeden Lebens und jeder Substanz beraubt. Seine leere, noch in das feuchte, salzfleckige Gewand gekleidete Haut lag im Schlamm wie eine weggeworfene Bananenschale.
»Das«, erklärte Marcia, »ist der richtige Lehrling. Ich habe ihn heute Morgen beim Spazierengehen entdeckt. Deshalb wusste ich mit Gewissheit, dass der ›Lehrling‹, der am Kamin saß, ein Schwindler war.«
»Was ist mit ihm geschehen?«, hauchte Jenna.
»Es ist verbraucht worden«, antwortete Marcia ernst. »Das ist ein alter und besonders gemeiner Trick. Einer aus den Geheimarchiven. Die alten Schwarzkünstler haben ihn ständig angewendet.«
»Können wir denn nichts für den Jungen tun?«, fragte Tante Zelda.
»Dazu ist es zu spät, fürchte ich«, antwortete Marcia. »Er ist jetzt nur noch ein Schatten. Bis Mittag wird er vollends verschwunden sein.«
Tante Zelda schniefte. »Er hatte es schwer im Leben. Armes Würmchen. Seiner Familie entrissen, und dann Lehrling bei diesem Scheusal. Ich weiß nicht, was Sarah und Silas sagen werden, wenn sie es erfahren. Es ist schrecklich. Der arme Septimus.«
»Ich weiß«, pflichtete Marcia ihr bei. »Aber wir können nichts mehr für ihn tun.«
»Ich bleibe hier bei ihm«, sagte Tante Zelda, »vielmehr bei dem, was noch von ihm übrig ist, bis er verschwindet.«
Bedrückt kehrten sie zur Hütte zurück, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Tante Zelda kam wenig später nach, verschwand im Schrank für Unbeständige Tränke und Spezialgifte und eilte dann wieder zum Entenhaus. Die anderen brachten den restlichen Vormittag damit zu, Schlamm aufzuwischen und in der Hütte aufzuräumen. Junge 412 stellte erleichtert fest, dass der grüne Stein, den Jenna ihm geschenkt hatte, von den Braunlingen nicht angerührt worden war. Er lag noch dort, wo er ihn hingelegt hatte, in der warmen Ecke neben dem Kamin, sorgfältig in seine Bettdecke eingeschlagen.
Am Nachmittag, als es ihnen endlich gelungen war, die Ziege vom Dach zu locken – viel war von dem Dach nicht mehr übrig –, beschlossen sie, mit Maxie einen Spaziergang in die Marschen zu unternehmen. Sie wollten gerade aufbrechen, als Marcia aus dem Haus rief: »Junge 412, könntest du mir bei etwas behilflich sein?«
Junge 412 war nur zu froh, dass er dableiben konnte. Obwohl er sich inzwischen an Maxie gewöhnt hatte, fühlte er sich in seiner Gesellschaft nicht so recht wohl. Er konnte einfach nicht verstehen, was Maxie durch den Kopf ging, wenn er urplötzlich an ihm hochsprang und ihm das Gesicht leckte, und beim Anblick von Maxies feuchter schwarzer Nase und sabbernder Schnauze packte ihn immer das kalte Grausen. Sosehr er sich auch bemühte, er verstand Hunde einfach nicht. Deshalb winkte er Jenna und Nicko jetzt fröhlich nach, als sie in die Marschen aufbrachen, und ging ins Haus zu Marcia.
Marcia saß an Tante Zeldas kleinem Schreibtisch. Vor ihrem verhängnisvollen Ausflug in die Burg hatte sie die Schlacht um den Schreibtisch für sich entschieden, und jetzt, nach ihrer Rückkehr, war sie wild entschlossen, ihn wieder mit Beschlag zu belegen. Junge 412 bemerkte, dass fast alle Stifte und Notizbücher Tante Zeldas auf dem Boden lagen und Marcia im Augenblick eifrig damit beschäftigt war, die restlichen für ihren eigenen Gebrauch mit einem Zauber zu verschönern. Sie tat es reinen Gewissens, denn wenn alles so klappte, wie sie es geplant hatte, würden die Gegenstände bald einen neuen, magischen Verwendungszweck bekommen. Hoffte sie zumindest.
»Ah, da bist du ja«, sagte Marcia in diesem geschäftsmäßigen Ton, der Junge 412 stets das Gefühl gab, er habe etwas Unrechtes getan. Sie warf ein gammeliges altes Buch vor sich auf den Tisch.
»Was ist deine Lieblingsfarbe?«, fragte sie. »Blau? Oder Rot? Ich hätte auf Rot getippt, weil du ständig diesen grässlichen roten Hut aufhast, seit du hier bist.«
Junge 412 war überrascht. Bisher hatte sich noch nie jemand die Mühe gemacht, ihn nach seiner Lieblingsfarbe zu fragen. Und davon mal abgesehen, war er sich gar nicht sicher, ob er überhaupt eine hatte. Dann fiel ihm das schöne Blau auf dem Drachenboot ein.
»Äh, blau. Eine Art Dunkelblau.«
»Ah ja. Gefällt mir auch. Vielleicht mit ein paar goldenen Streifen? Was meinst du?«
»Doch, äh, ja, das ist schön.«
Marcia fuchtelte mit den Händen über dem Buch herum und murmelte etwas. Ein lautes Rascheln ertönte, und alle Seiten ordneten sich neu. Alle Notizen, die Tante Zelda hineingekritzelt hatte, entfernten sich, darunter auch ihr Lieblingsrezept für Krauteintopf, und verwandelten sich in fabrikneues, glattes, cremefarbenes Papier, das ideal zum Beschreiben war. Dann banden sie sich selbst in lapislazuliblaues Leder ein, mit echten Goldsternen und einem lila Buchrücken, auf dem stand, dass das Buch dem Lehrling der Außergewöhnlichen Zauberin gehörte. Und als besondere Note fügte Marcia noch ein Schloss aus reinem Gold und einen kleinen silbernen Schlüssel hinzu.
Sie schlug das Buch auf, um nachzusehen, ob der Zauber funktioniert hatte. Befriedigt stellte sie fest, dass die ersten und die letzten Seiten des Buchs hellrot waren, in genau derselben Farbe wie der Hut von Junge 412. Auf der ersten Seite stand: LEHRLINGSBUCH.
»Hier, bitte«, sagte Marcia, klappte den Deckel zu und drehte den silbernen Schlüssel im Schloss. »Ist schön geworden, findest du nicht?«
»Doch«, antwortete Junge 412 verwirrt. Warum fragte sie ihn das?
Marcia sah ihm in die Augen. »Jetzt muss ich dir etwas zurückgeben – deinen Ring. Danke. Ich werde dir nie vergessen, was du für mich getan hast.«
Marcia zog den Drachenring aus einer Tasche in ihrem Gürtel und legte ihn behutsam auf den Tisch. Der bloße Anblick des goldenen Drachen mit seinen strahlenden Smaragdaugen, der sich, den eigenen Schwanz im Maul, auf dem Tisch krümmte, machte Junge 412 sehr glücklich. Aus irgendeinem Grund zögerte er, den Ring zu nehmen. Er spürte, dass Marcia noch etwas sagen wollte. Und sein Gefühl trog ihn nicht.
»Woher hast du den Ring eigentlich?«
Sofort bekam Junge 412 Schuldgefühle. Also hatte er doch etwas Unrechtes getan. Nur darum ging es.
»Ich ... ich habe ihn gefunden.«
»Wo?«
»Ich bin in den unterirdischen Gang gefallen. In den, der zum Drachenboot führte. Nur wusste ich das damals noch nicht. Es war dunkel. Ich konnte nichts sehen. Und da fand ich den Ring.«
»Hast du dir den Ring angesteckt?«
»Äh, ja.«
»Und was ist dann geschehen?«
»Er ... er hat geleuchtet. Und so konnte ich sehen, wo ich war.«
»Hat er dir gepasst?«
»Nein. Zuerst nicht. Aber dann schon. Er wurde kleiner.«
»Aha. Und er hat dir nicht zufällig etwas vorgesungen, oder?«
Bis jetzt hatte Junge 412 stur vor sich hingesehen. Nun aber schaute er zu Marcia auf und sah das Lächeln in ihren Augen. Machte sie sich über ihn lustig?
»Doch. Zufällig ja.«
Marcia überlegte. Sie schwieg so lange, dass Junge 412 glaubte, etwas sagen zu müssen. »Sind Sie mir böse?«
»Warum sollte ich dir böse sein?«, fragte sie.
»Weil ich den Ring genommen habe. Er gehört doch dem Drachen, oder nicht?«
»Nein, er gehört dem Drachenmeister«, schmunzelte Marcia.
Junge 412 blickte besorgt. Wer war der Drachenmeister? Würde er sich ärgern? War er sehr groß? Was würde er tun, wenn er dahinter kam, dass er seinen Ring hatte?
»Könnten Sie ...«, fragte er zögernd, »... könnten Sie ihn dem Drachenmeister zurückgeben? Und ihm sagen, dass es mir Leid tut, dass ich ihn genommen habe.« Er schob den lapislazuliblauen Ring über den Tisch zurück zu Marcia.
»Also gut«, sagte sie feierlich und nahm den Ring. »Ich gebe ihn dem Drachenmeister zurück.«
Junge 412 seufzte. Er hatte den Ring geliebt, und seine bloße Nähe machte ihn glücklich, aber es überraschte ihn nicht, dass er einem anderen gehörte. Es war zu schön für ihn.
Marcia betrachtete den Ring eine Weile. Dann streckte sie ihn Junge 412 hin.
»Hier«, sagte sie lächelnd, »dein Ring.«
Junge 412 starrte sie verständnislos an.
»Du selbst bist der Drachenmeister«, sagte Marcia. »Der Ring gehört dir. Ach ja, und die Person, die ihn genommen hat, lässt dir ausrichten, dass es ihr Leid tut.«
Junge 412 war sprachlos. Er starrte den Ring in seiner Hand an. Er war sein.
»Du bist der Drachenmeister«, wiederholte Marcia, »weil der Ring dich ausgewählt hat. Er singt nämlich nicht für jeden, musst du wissen. Und er hat sich an deinen Finger geschmiegt, nicht an meinen.«
»Warum?«, hauchte Junge 412. »Warum gerade mich?«
»Du hast erstaunliche magische Kräfte. Das habe ich dir schon einmal gesagt. Vielleicht glaubst du mir jetzt.« Wieder lächelte sie.
»Ich ... ich dachte, die Kräfte gehen von dem Ring aus.«
»Nein, sie gehen von dir aus. Vergiss nicht, der Drache hat dich auch ohne den Ring erkannt. Er wusste es. Schließlich wurde der Ring zuletzt von Hotep-Ra getragen, dem ersten Außergewöhnlichen Zauberer. Er hat lange gebraucht, um jemanden wie Hotep-Ra zu finden.«
»Aber doch nur, weil er jahrhundertelang in einem Geheimgang lag.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Marcia geheimnisvoll. »Gewöhnlich regeln sich die Dinge von selbst. Irgendwann.«
Allmählich glaubte Junge 412, dass Marcia Recht hatte.
»Lautet deine Antwort immer noch nein?«
»Nein?«, fragte Junge 412.
»Was die Lehre bei mir angeht. Hast du deine Meinung geändert, jetzt, wo du das alles weißt? Willst du mein Lehrling werden? Ich bitte dich.«
Junge 412 kramte in der Tasche seines Pullovers und zog den Charm hervor, den ihm Marcia gegeben hatte, als sie ihn das erste Mal gefragt hatte, ob er ihr Lehrling werden wolle. Er betrachtete die silbernen kleinen Flügel. Sie glänzten so hell wie immer, und noch immer war eingraviert: FLIEGE MIT MIR IN DIE FREIHEIT.
Junge 412 lächelte.
»Ja«, sagte er, »ich würde gern Ihr Lehrling werden. Sehr gern.«